Mit der Pferdekutsche zum Hausbesuch

Seit hundert Jahren gibt es in Rambin ununterbrochen ärztliche Betreuung. Das historische Doktorhaus erlebte eine wechselvolle Geschichte.

Arztpraxen verwaisen, wenn der Doktor in den Ruhestand tritt; so ist das häufig auf dem platten Land. Nicht so in Rambin. Im April 2019 gibt es im Dorf seit genau 100 Jahren in ununterbrochener Folge eine qualifizierte medizinische Versorgung, zeitweilig sogar mit mehreren Ärzten und bis zu 14 Bediensteten am Ort. Ein Jubiläum, von dem selbst Ortsansässige kaum etwas wissen. Die Gemeinde wird diesen Anlass in einer Feierstunde begehen und im Ort eine Informationstafel aufstellen.

Ein historisches Gebäude spielt eine besondere Rolle – das Doktorhaus direkt gegenüber vom Rambiner Friedhof. Ein Schelm, der dabei Böses denkt. Andererseits: Der Weg zwischen Friedhofsmauer und Arztpraxis heißt „Zum Landambulatorium“. Hier hat sich die Begriffswelt der DDR in die Neuzeit gerettet. Landambulatorien und Polikliniken entwickelten sich von 1955 an zum Kern der medizinischen Versorgung.

Ärztin für Rambin und Umgebung ist aktuell Dr. Martina Lindner. Ihr Vorgänger, Dr. Francis Baudet, musste lange suchen bis er die Nachfolge sichern konnte. Dabei kam sogar ein Zufall zu Hilfe. Foto: Frank Levermann

Hinter der klassizistischen Fassade des doppelstöckigen Hauses wirkten Generationen von Landärzten. Die Leute in Rambin nennen es deshalb heute noch Doktorhaus, obwohl die medizinische Versorgung jetzt nebenan stattfindet – im schlicht dreinschauenden weißen und klinisch sauberen Zweckgebäude. Seit Ende 2014 versorgt hier die Medizinerin Dr. Martina Lindner rund 1000 Patienten aus Rambin und Umgebung.

Die Historie der Ärzte im Dorf beginnt mit einer Liebesgeschichte und endet tragisch. Den damals 29-jährigen Mediziner Dr. Wilhelm Hirsch zieht es nach Rambin – der Liebe wegen zur Rüganerin Margarete Stockmann vom damaligen Forsthaus Hedwigshof bei Kluis. Im Jahr zuvor hatte er in Breslau seine Doktorarbeit geschrieben. Hirsch kauft das Haus in Rambin, richtet sich im Obergeschoss häuslich ein und gründet im April 1919 in Parterre die erste Arztpraxis mit kleinem Wartezimmer. In dieser Zeit kuriert Europa gerade an den tiefen Wunden, die der Ersten Weltkrieg geschlagen hatte. Vielerorts herrschen Krankheit und Elend, Ärzte sind überall vonnöten. Er hat gut zu tun, der erste Allgemeinmediziner in Rambin.

Wird der Doktor zum Hausbesuch gerufen, schwingt er sich aufs Fahrrad und besucht so seine Patienten. Später bringt er es zum Pferd mit Wagen, in den Dreißigerjahren sogar zum Zweispänner mit „Jagdwagen“. Immer rufbereit steht ihm Kutscher Hans Natzius zur Seite. Hinter dem Doktorhaus befinden sich ein Stall für die beiden Pferde und den Kutschwagen sowie ein weiterer Stall mit Waschküche und Nebenräumen, unter anderem mit der Schlafstätte für den Kutscher.

Dr. Hirsch, ab 1919 erster Arzt in Rambin. Foto: Privat

Dr. Wilhelm Hirsch ist Arzt durch und durch. Und die Leute in Rambin lieben ihn für seine ständige Einsatzbereitschaft und „ärztliche Kunst“, wie es damals hieß. Für Freizeit bleiben ihm und seiner Margarete, die er zwischenzeitlich geheiratet hatte, kaum Zeit. „Wenn wir ausnahmsweise mal nach Stralsund ins Theater wollten, fuhren wir mit dem Zug“, schreibt Margarete Hirsch in ihren Erinnerungen. Die Pferde mussten geschont werden für den Diensteinsatz unter der Woche. Weiter schreibt sie in ihren Erinnerungen: „Auf dem Rückweg kamen wir nachts mit der Fähre von Stralsund bis Altefähr und liefen bei Stockdunkelheit die sechs Kilometer zu Fuß nach Hause.“

Man schreibt den 7. Juni 1937, jenen Tag, an dem der emsige, beliebte Doktor mit nur 47 Jahren stirbt. Nach 18 Jahren Schaffenszeit in Rambin wird er drei Tage später beigesetzt. „Die Teilnehmerzahl war unübersehbar“, schreibt Margarete Hirsch in ihren Erinnerungen, „jedes Haus hatte Halbmast geflaggt“. Das ganze Dorf traure um seinen Arzt.

Unmittelbarer Nachfolger ist Dr. Hermann Rolshoven, der aus dem Rheinland zugezogen war und bislang für Hirsch die Vertretung innehatte. 1948 kommt für Rolshoven der Ruf als Chirurg ans Krankenhaus in Bergen. Nachfolger in Rambin wird Dr. Fritz Schumann. Als Heimatvertriebenen hatte es ihn von Hinterpommern nach Rambin verschlagen. Bis 1953 praktiziert er hier. Danach kommt der in Putbus ansässige Kreissportarzt Dr. Werner Grunert dreimal in der Woche zur Sprechstunde ins Doktorhaus nach Rambin.

Das Rambiner Doktorhaus nach Sanierung. Hier praktizierten Generationen von Landärzten. Foto: Frank Levermann

Schließlich, 1955, erreicht der Wandel im Gesundheitssystem der DDR auch das beschauliche Rambin. Das historische Doktorhaus wird zum Landambulatorium umfunktioniert. Nach dem Muster der größeren Polikliniken in zentralen Städten kümmert sich das Personal der neuen Landambulatorien um die medizinische Versorgung in dünn besiedelten Gebieten. Rambin mutiert zum Zentrum der Gesundheitsversorgung für den ganzen Süd-Westen. Zum Landambulatorium gehören die fünf Dependancen Samtens, Altefähr, Gustow, Dreschwitz und die Insel Hiddensee, teils mit eigenen Ärzten vor Ort und weiterem medizinischen Personal. Insgesamt ein Netzwerk von gut 30 Mitarbeitern. Rambin selbst hat dabei mit 14 Bediensteten eine stattliche Personalausstattung.

Doktorhaus nach Veränderung in der DDR-Zeit. Schlicht, grau und rau: Das Doktorhaus Mitte der Siebzigerjahre nach Renovierung. Im Dorf sprach man spöttisch vom „LPG-Putz”. Foto: Privat

Ärzte und medizinische Mitarbeiter aller Außenstellen treffen sich zu dieser Zeit in Rambin regelmäßig jeden Monat zur Besprechung über aktuelle Behandlungsfälle. Von Gründung des Landambulatoriums an ist zunächst für zwei Jahre der Allgemeinmediziner Dr. Werner Grunert Chef. Jugendzahnärztin Margot Siebke gehört zum Team, jahrelang auch das Ärzteehepaar Heidi und Michael Kallius aus Vitte auf Hiddensee. Nachfolger von Grunert wird 1957 Dr. Heinz Barten mit täglicher Präsenz in Rambin. Seit dieser Zeit fungiert das Landambulatorium Rambin auch als Ausbildungsstätte für das poliklinische Jahr junger Ärzte. In den Jahren 1966 und 1967 zieht Barten sich schrittweise zurück; das Amt als Präsident der Gesellschaft für Allgemeinmedizin der DDR in Berlin verschafft ihm höhere Meriten. Zu dieser Zeit absolviert bereits Gerhard Paschirbe in Rambin sein poliklinisches Jahr, seit 1970 ist er Facharzt für Allgemeinmedizin mit regulärer Anstellung. Chef des Landambulatoriums wird Gerhard Paschirbe 1974 und bleibt es bis 1990.  1988 wird ihm der Titel Medizinalrat (MR) verliehen.

Zahnarzt im Landambulatorium ist bis 1960 Dr. Kurt Fischer. Es folgen noch drei Nachfolger. Zuletzt wirkt Andrea Beer im Doktorhaus. Heute lebt und arbeitet sie als niedergelassene Zahnärztin in ihrem Haus und ihrer Praxis am Rande der Dorfmitte.

MR Gerhard Paschirbe war letzter Chef im ehemaligen Landambulatorium und praktizierte nach der Wende weiter im Doktorhaus. Die Geschichte der Rambiner Ärzte hat er akribisch dokumentiert. Foto: Frank Levermann

Mit der Wende überzieht 1990 das Gesundheitssystem erneut ein Systembruch. Die Landambulatorien der DDR werden aufgelöst, an ihre Stelle treten Praxen niedergelassener Ärzte. MR Gerhard Paschirbe und Zahnärztin Andrea Beer stehen vor Neuland mit besonderen Herausforderungen. Aus dem sicheren Arbeitsverhältnis führt die neue politische Wirklichkeit beide in eine noch ungewisse Selbstständigkeit. Rüstzeug holt sich Paschirbe bei Arztkollegen aus Schleswig-Holstein. Bis Januar 2008 praktiziert er im Doktorhaus als niedergelassener Arzt. Um weiterhin hier wohnen zu können, kauft er das historische Gebäude 1991 und beginnt mit Ehefrau Renate bald mit der Restaurierung. Auch sein Nachfolger Dr. Francis Baudet praktiziert zunächst im Erdgeschoss des Doktorhauses bis er Anfang 2010 in das neu gebaute Haus nebenan einziehen kann.

Die 100 Jahre währende Ärztegeschichte in Rambin folgte immer einem ungeschriebenen Gesetz: Bislang sind Rambiner Mediziner nur dann in den Ruhestand getreten, wenn sie die ununterbrochene Nachfolge sichern konnten. Dr. Francis Baudet musste lange suchen bis er 2014 mit der aktuell praktizierenden Medizinerin Dr. Martina Lindner seine Nachfolgerin gefunden hatte. Darüber war er damals 71 geworden.